Seit der Insolvenz der US-Investmentbank Lehman Brothers Inc. im September 2008 werden Zertifikate nicht nur aus positiver Sichtweise beurteilt. Der damalige finanzielle Ausfall und teilweise Komplettverlust bei vielen Anlegern in Lehman-Zertifikaten lenkte den Fokus verstärkt auf die Risiken dieser Finanzmarktinstrumente. Doch nicht alle verbreiteten Annahmen sind auch richtig. In folgendem Artikel werden fünf markante Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft und beurteilt.
1. Zertifikate verursachten die Finanzkrise
Falsch! Die Finanzkrise wurde durch Verwerfungen am Immobilienmarkt ausgelöst. Nachdem die gewohnten Preissteigerungen für Grundstücksbesitzer in den USA als fest einkalkulierte Rendite nicht mehr erreicht wurden und im Zuge von Zinserhöhungen der Notenbank gering kapitalisierte Hausbesitzer ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten, begann der Preisverfall im Immobiliensektor. Verträge mit variablen Zinsklauseln ermöglichten dies. Über Kreditderivate (Oberbegriff für Zertifikate) und der Bündelung dieser Kreditausfallrisiken als ABS (Asset Backed Securities) und CDO (Collateralized Debt Obligations) streute sich diese Problematik auf die internationale Ebene. Viele Institutionen weltweit standen infolgedessen als Gläubiger in der Schuld. Weitere Risikonehmer konnten zu den vorherrschenden Konditionen nicht akquiriert werden. Es kam somit zwangsläufig zu ersten Abschreibungen und Insolvenzen, wie der von Lehman Brothers. Besitzer dieser Zertifikate waren somit ganz eindeutig die Opfer und nicht Verursacher.
2. Anlegerverluste sind Bankengewinne
Falsch! Die Logik der Umverteilung im Geldkreislauf ist an dieser Stelle fehlplatziert. Bereits bei der Emission von Zertifikaten muss sich die ausgebende Institution gegen Kursrisiken des zugrunde liegenden Assets absichern. Dies ist für die ordnungsgemäße Kalkulierung der potentiellen Risiken notwendig. Während der Laufzeit werden diese Mechanismen immer wieder an den aktuellen Kursverlauf angepasst. Eine Spekulation mit dieser Absicherung ist zudem gesetzlich verboten. Der Emittent von Zertifikaten verdient ausschließlich am Spread (Differenz zwischen Kauf- und Verkaufspreis) und an eventuellen Gebühren oder Dividendenzahlungen während der Laufzeit. Ein Anleger spekuliert somit immer gegen den Kursverlauf am Markt und nicht gegen die Bank.
3. Emittenten sorgen für Knockout
Falsch! Diese Annahme wird vor allem in Börsenforen immer wieder angeführt. In einigen Fällen glauben Anleger sogar am Chart zu erkennen, dass der Emittent genau diese Kursmarke zum Eintreten des Knockouts eines Zertifikates erreichen wollte. Nach der Erläuterung in Annahme 2 darf der Emittent vom Gesetz her jedoch so nicht handeln und wird im Rahmen der Handelsüberwachung und der BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht) diesbezüglich sehr genau kontrolliert. Es drohen bei Zuwiderhandlungen hohe Strafen und nicht zuletzt ein unabwendbarer Imageverlust. Betrachtet man zudem die Vielzahl an Knockout-Zertifikaten, lässt sich augenscheinlich an vielen Marken eine solche „Verschwörung“ konstruieren. Oftmals ist neben der Vermutung die allgemeine Börsenpsychologie für diese Annahme verantwortlich. Sehr gut ist dies bei runden Kursmarken wie DAX 7.000 zu beobachten. Für Anleger ist somit ein Blick auf den Chart mehr zu empfehlen als die Schulddelegation in Richtung der Bank.
4. Zertifikate nach Umsatz gewichten
Falsch! Für Aktien gilt zwar: ohne Umsatz kein Handel, aber bei Zertifikaten ist die Bank bzw. der Emittent dazu verpflichtet, für seine Papiere laufende Kauf- und Verkaufspreise zu stellen. Eine Höhe dieser Verpflichtung ist über die angegebene Stückzahl im Bid und Ask der Börsenhandelsplätze für alle Marktteilnehmer transparent einsehbar. Ohne Kundenaufträge im Orderbuch wird eine per Limit erreichte oder ohne Limit eingestellte Zertifikate-Order direkt mit dem Emittenten zur Handelsausführung gelangen. Dies gilt für über 500.000 in Deutschland handelbaren Zertifikate. Das Kriterium Umsatz ist somit kein Argument für oder gegen ein bestimmtes Zertifikat.
5. Zertifikate gibt es nur in Deutschland
Falsch! Natürlich gibt es dieses Finanzinstrument auch in anderen Ländern. Indexzertifikate gab es bereits 1990 in Deutschland und als Indexfond SPDR 1970 in den USA. Dort sind Zertifikate noch länger ein fester Bestandteil für Anleger und Investoren. Allerdings ist die Struktur unterschiedlich aufgebaut. Es werden in den USA keine börsennotierten Zertifikate sondern Privatplatzierungen für Kunden von Banken emittiert. Dafür ist weder ein öffentlicher Vertrieb noch ein hoher Regulationsaufwand erforderlich.
Deutschland ist bei Zertifikaten allerdings Weltmarktführer und transportiert dieses Wissen und Erfahrungen in andere Länder. Bis 2013 könnte die Anzahl der Zertifikate laut einer Studie des Finanzanalysehauses Scope auf über 1 Million anwachsen (Stand Ende 2010: 548.784 Produkte). Von daher kommt es vermutlich zu dieser falschen Annahme.
Stellvertretend für weitere Irrtümer lag es mir sehr am Herzen, zumindest die fünf Weitverbreitetsten detaillierter zu ergründen. Vielleicht trägt dieser Artikel zur weiteren Aufklärung über diese sehr facettenreiche und spannende Produktkategorie bei – ich würde mich darüber sehr freuen!
Bernecker1977 – Andreas Mueller